Der Filzmacher von Konya


In einer der verzweigten Gassen des alten Basarviertels von Konya sind in einem Atelier kleine Häuflein von Wolle aufgeschichtet. Aus ihnen sollen die so genannten Sikke entstehen, die traditionellen Kopfbedeckungen der Mevlevi-Derwische. Der Mann, der diese alte Traditionen bewahrt, ist der in Konya lebende und arbeitende Keçeci Mehmet Girgiç. In der Altstadt und über die Grenzen Konyas hinaus kennt man ihn unter dem Namen Keçeci, was “Filzmacher” bedeutet und mehr ist als eine Berufsbezeichnung, eigentlich ein Titel.

Keçeci Mehmet nimmt ein gabelähnliches Holzwerkzeug aus Kirschholz, einfach “Çubuk” (Stange) genannt, zur Hand, mit dem er die Wolle zunächst zu einem ovalen Gebilde auflockert und dann mit der Hand formt. Diese Form wird anschließend mit Wasser und Seifenlauge besprenkelt, fest in eine Matte eingerollt und zusammengebunden. Jetzt erfolgt das Pressen und Rollen, nach einiger Zeit ist der so entstandene Filz bereit, die richtige Form zu erhalten. Ein Filzstück von doppelter Länge des fertigen Derwischhuts wird nun ineinander gestülpt, so das dieser durch die Doppelwandigkeit eine gute Stabilität erhält und an der Unterseite wohlgeformte, runde Kanten entstehen. Unterdessen wird der Filz weiter gewalgt.

Während die entstehende Sikke für die entsprechende Kopfgröße auf einen geformten Holzblock aufgezogen wird, besprenkelt man sie noch von innen und aussen mit Zuckerwasser, was die Haltbarkeit erhöht. Nach dem Trocknen ist der klassische Derwischhut fertig. Für die Sikke der Scheichs des Ordens fehlt jetzt noch ein grüner, schmaler Stoff, der ähnlich einem Turban um den unteren Teil gewickelt wird.

Die Sikke wurde zu Zeiten der Seldschuken und Osmanen von den Derwischen des Mevlevi-Ordens getragen, deren Gründer der muslimische Mystiker Mevlana Celaleddin Rumi (1207-1273) war. Sein Mausoleum (Türbe) im alten Derwischkloster in Konya, das heute ein Museum ist, wird täglich von zahlreichen Besuchern und Pilgern aufgesucht.

Die Art der Herstellung ist seit dem 13. Jahrhundert nahezu unverändert geblieben. Ursprünglich war die Form oben rund und damit die Sikke ca. 32 cm hoch, erst vor etwa hundert Jahren wurde der Derwischhut fünf Zentimeter niedriger, da er von nun an oben flach gestaltet und damit der Form des Fes angepaßt wurde. Der Fes ist allerdings nicht türkischen Ursprungs, er war bereits eine Europäisierung der orientalischen Kopfbedeckungen. Meister Mehmet hat jedoch die Form wieder ein wenig weiter entwickelt, in dem er sie etwas ovaler machte. “So sieht die Sikke besser aus”, sagt Mehmet. Auch arbeitet er daran, die Haltbarkeit der Sikke um 100 bis 150 Jahre zu erhöhen. Doch mehr verrät er nicht.

In der Vergangenheit verwendete man feines Kamelhaar sowie Mohair (tiftik), das nicht von der weißen Angora-Ziege, sondern von der ersten Scherung kleiner Ziegen der schwarzen oder braunen Rasse (kırmızi keçi) in Zentral- und Ostanatolien stammte. Und auch heute verwendet Keçeci Mehmet auschließlich Original-Materialien wie das Haar des Steinbocks von den anatolischen Hochebenen. So manche Sikke, darunter einige im Mevlana-Mausoleum, hat der Meister auch aus Kaschmirwolle gefertigt. Doch dieses Material ist sehr teuer und es ist nicht leicht, für die Sikke die richtige naturgegebene Farbe bei Kaschmirwolle zu finden.

Dem Großvater Keçeci Ahmet ist es wohl zu verdanken, daß Mehmet schon im Alter von 13 Jahren begann, mit Wolle zu arbeiten. Sein Großvater weihte ihn in die Kunst ein, mit Filz gestalterisch und praktisch umzugehen. Dieser hatte bereits während der Übergangszeit vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei in der Stadt Konya die traditionellen Küla-Hüte gefertigt sowie die Derwischhüte für die Mitglieder des religiösen Mevlevi-Ordens aus Filz hergestellt. Darüber hinaus machte er auch warme Schäfermäntel (Kepenek), die in den Bergen Anatoliens gebraucht wurden. Mehmets Großvater wurde im Jahr 1325 nach der Hidschra (Auswanderung des Propheten Mohammed aus Mekka) geboren, das heißt nach der damals im Osmanischen Reich noch gültigen islamischen Zeitrechnung.

Dies entspricht im europäisch-gregorianischen Kalender dem Jahr 1907/08. Sein Vater war 1915 in Çannakale während des mehrere Monate dauernden Stellungskrieges auf der Halbinsel Gelibolu (Gallipoli) gefallen, in dem die türkischen Truppen zwar die angreifenden Neuseeländer, Australier und Briten geschlagen hatten, aber nach Schätzungen insgesamt über 200000 Menschen gestorben sein sollen. So begann Dudunun Ahmet, der den Namen seiner Mutter trug, welche eine starke Frau gewesen sein soll, schon im jungen Alter von 10 Jahren bei dem damaligen Meister der Filzmacher, der unter anderem auch die Sikke für die Mevlevi-Derwische herstellte, das Filzhandwerk zu erlernen. Später wurde dann Mehmets Großvater selber zum Meister. Fünfzig Jahre arbeitete Keçeci Ahmet als Filzmacher und erlebte während dieser Zeit viele gesellschaftliche Veränderungen, die sich mit dem Wandel des Osmanischen Reiches zur Türkischen Republik vollzogen. Im Alter von 60 Jahren zog er sich aus der aktiven Arbeit zurück.

Als erstgeborener Enkel war Mehmet immer mit dem Großvater zusammen, spielte schon als Kind mit der Wolle, während der Großvater arbeitete. Wie man eine Sikke macht, lernte Mehmet bereits im Alter von 13 Jahren, dann war er jedoch zunächst eher am Beruf des Automechanikers interessiert gewesen. Als sich eine Arbeitsgelegenheit bot, wollte aber sein Vater nicht, daß er in dieser Firma arbeitete. So bot ihm schließlich sein Großvater Keçeci Ahmet an, bei ihm das Filzhandwerk richtig zu lernen. Mehmet lernte viel von seinem Großvater, bis dieser im Alter von 77 Jahren an einem Freitag während des Gebets in der Moschee starb.

Mehmet arbeitete zu dieser Zeit außerdem mit seinem Vater und Onkel zusammen, später nur noch mit seinem Onkel. Ali Sabmaş, ein Freund des Großvaters machte mittlerweile die Derwischhüte in Konya, als er starb, setzte Mehmet, nun mit dem Namenszusatz “Keçeci”, die Arbeit an den Sikke Mitte der 1970er Jahre in der Tradition seines Großvater fort. In den 1980er Jahren eröffnete Mehmet einen eigenen kleinen Laden, wo er fast zehn Jahre lang Filzarbeiten an Touristen verkaufte. Schließlich begann er intensiver mit Naturfarben aus Pflanzen nach alten Rezepten zu experimentieren und fertigte in Zusammenarbeit mit Bauern-Familien traditionelle Flachgewebe (Kilim) unter Verwendung von originalen Mustern und Motiven. 1987 erneuerte Keçeci Mehmet die ausgestellten Sikke im Mevlana-Mausoleum und in anderen Grabstätten muslimischer Mystiker in Konya.

Keçeci Mehmet ist für seine direkte Art bekannt und so verwundert es nicht, wenn er im Zusammenhang mit der heutigen Bedeutung der Derwischhüte zumindest gelegentlich auch mal kritische Töne anschlägt. Als touristisches Andenken will er die Kopfbedeckung nicht verstanden wissen. Sikke werden überwiegend von Derwischgruppen gekauft, die im Ausland aktiv sind. “Jeder, der Sema, den mystischen Wirbeltanz praktiziert, kauft eine Sikke”, sagt er und bringt damit zum Ausdruck, das die Sikke mehr als eine Kopfbedeckung ist. Und tatsächlich hat er im Laufe der Zeit rund 2000 Sikke hergestellt.

“Viele Sikke gehen in die Schweiz, nach Deutschland, England, Frankreich, Spanien, Italien, Australien und in die USA. Wer die Sikke kauft, verbindet dies auch mit der Philosophie Mevlanas”. Ob jemand allerdings ein Derwisch ist oder nicht, will er nicht beurteilen. “Wenn Du fünf mal am Tag betest, nicht über andere lästerst und den Menschen hilfst, was hat dann ein Derwisch mehr als Du”, sagt Mehmet: “Wichtig ist es ein Derwisch im Herzen zu sein. Es ist nicht sinnvoll wie ein Derwisch auszusehen, aber im Innern keiner zu sein. Ob man Derwisch ist oder nicht, können allenfalls andere Menschen beurteilen.”, sagt Meister Mehmet und sieht sich selbst als kreativen Handwerker.

Nachdem eine Gruppe Filzinteressierter aus England seine Arbeiten in Konya gesehen hatte, luden sie ihn 1998 nach Oxford zur “Art in Action” ein. Dort leitete er einen von der Oxford University organisierten Workshop. Verschiedene weitere Workshops in England, Deutschland und in den USA folgten, Keçeci Mehmets Arbeit fand auch in Publikationen Beachtung, wie z.B. in dem in der Schweiz erschienenen Buch “Filzkunst – Tradition und Experiment” von Marlene Lang oder dem türkischen Halı-Magazin.

Im Mai 2005 ist der Boden des Ateliers in der Pürçüklü Mahallesi Bostan Çelebi Sokak Nr. 10, eine schmale Straße im alten Basarviertel im Herzen Konyas, die von der breiten Mevlana Caddesi abzweigt, über und über mit Filzteppichen belegt. Auf zwei Etagen arbeiten Keçeci Mehmet, Ehefrau Rahbia und mehrere Mitarbeiterinnen fieberhaft an der Fertigstellung zahlreicher Filzteppiche, die Mehmet Anfang Juni mit zu einer ausgiebigen Workshop-Reise durch die USA mitnehmen will. Auf einer Farm in Missouri, bei Veranstaltungen in Pittsburg/Pensylvania, Columbia, Houston/Texas sowie auf dem International Folk Festival in Santa Fe präsentiert Mehmet seine Arbeiten und gibt Interessierten Einblicke in das traditionelle Filzhandwerk. Auch wenn heute Teppiche, Schals, Mützen und Taschen gefertigt werden, so ist doch die Herstellung der Sikke, der Kopfbedeckung der Mevlevi-Derwische, das wichtigste Produkt in Mehmets Atelier.

In Keçeci Mehmets Atelier entsteht wieder einmal ein handgefertigter Filzteppich. Zunächst muß das Basismaterial, das heißt es müssen große einfarbige Filzstücke hergestellt werden. Die Wolle wird mit aus Pflanzen hergestellten Naturfarben gefärbt und anschließend getrocknet oder in ihrer Originalfarbe belassen, dann mit dem gabelähnlichen Çubuk aufgelockert und auf eine große Matte verteilt. Nach dem Besprenkeln mit Seifenlauge erfolgt das Einrollen und mehrmalige Pressen der gesamten Rolle. Im Atelier wird nur Wasser und Naturseife verwendet, keine säurehaltige Seifenlauge, und zur Färbung nimmt Mehmet ausschließlich Naturfarben, die er aus heimischen Pflanzen gewinnt. “Ich weiß eben wie es geht”, sagt Meister Mehmet selbstbewußt: “Für mich steht immer die Qualität im Vordergrund”.

So entstehen große Filzstücke, aus denen Streifen und Motive für die Muster des Filzteppichs geschnitten werden können. Sorgfältig wird jeder Filzstreifen in Seifenlauge getaucht, manchmal noch zurecht geschnitten und dann daraus das entsprechende Muster gelegt. Als Untergrund dient eine einfache Bastmatte oder Plastikfolie, auf der so nach und nach das ganze Motiv des Filzteppichs entsteht. Oft verwendet werden seldschukische Designs mit geometrischen Mustern sowie osmanische Motive mit Darstellungen von Granatäpfeln, Tulpen und Mohnblüten. “Wir verwenden traditionelle Designs”, sagt Mehmet; “aber meine Mitarbeiterinnen können ein wenig frei gestalten, das fördert die Freude an der Arbeit sowie auch die Kreativität”. Freilich gesteht der Meister künstlerische Freiheiten nur in einem bestimmten Rahmen zu, die Originalität der Muster muß erhalten bleiben.

Die so langsam entstehenden Motive wirken äußerst plastisch. Zusätzlich zu den meist breiteren Streifen und zugeschnittenen Rundungen wird aus gedrehtem Filz ein Rand konstruiert, der das einzelne Motiv noch intensiver erscheinen läßt. Es folgen weitere filigrane Details. Die Arbeit ist langwierig und erfordert ein Gefühl für grafische Elemente sowie einen künstlerisch emotionalen Zugang des Kreativen zum Motiv. Gerade bei vielen Details darf man das Gesamtbild nicht außer Acht lassen. Wenn der Filz naß ist, leuchten die Farben intensiv, wichtig ist daher sich vorstellen zu können, wie das Endprodukt aussehen würde. Hier spielt die Erfahrung des Filzmachers und seiner Mitarbeiterinnen eine bedeutende Rolle.

Nachdem die Motive des Filzteppichs gestaltet sind, werden die noch offenen Flächen mit Wolle gefüllt und anschliessend mit Seifenlauge besprenkelt. Nun wird ein passend zurecht geschnittenes Baumwolltuch über das gesamte Motiv ausgebreitet und dann alles zusammen auf eine große Bastmatte gelegt. Darauf wird weitere Wolle mit dem Çubuk aufgelockert, verteilt und ebenso mit Seifenlauge besprenkelt. Ist die Rückseite des Teppichs farbig, kann man zu intensiv leuchtende Farben mit etwas weisser Wolle aufhellen. Das anschließende Pressen erfolgt mal von Hand, was jedoch sehr anstrengend ist, mal mit einer großen Maschine, die in einer Seitennische des Ateliers steht. Meist sind mehrere Durchgänge beim Pressen notwendig, bis der Filzteppich weitgehend fertig ist und jetzt nur noch trocknen muß. Zum Abschluß werden die Ränder mit einer großen Schere gerade geschnitten sowie hochstehende Wollflusen mit einer kleinen Schermaschine beseitigt. Dann ist wieder ein Filzteppich fertigt.

Keçeci Mehmet fertigt neben Sikke und Filzteppichen auch traditionelle Knüpftteppiche (Halı) und anatolische Flachgewebe (Kilim). In Zusammenarbeit mit zahlreichen Frauen in den Dörfern und Ortschaften ca. 150 km rund um Konya, entstehen wieder Original-Stücke nach ursprünglicher Art. “Am Anfang steht die Wolle”, sagt Keçeci Mehmet und macht klar, daß er nur erstklassiges Material verwendet, wie Wolle der Schafe aus dem nahegelegenen Taurusgebirge oder Ankara-Mohair. Das Spinnen der Wolle muß dann ölfrei und daher von Hand mit einer Spindel erfolgen. Die Wolle kauft er auf dem Wollmarkt in Konya.

Viele Jahre färbte Keçeci Mehmet die Wolle in einem der Lehmhäuser im alten Viertel Karatay, wo er und seine Söhne auch auch Teppiche und Kelim reinigten. Jetzt färbt er die Wolle in Bottichen im Atelier und ist gerade dabei sich neben seinem Wohnhaus weitere Möglichkeiten zu schaffen, um Wolle im größeren Umfang färben zu können. Hierzu werden ausschließlich Naturfarben aus verschiedenen, getrockneten einheimischen Pflanzen gewonnen, in einem kleinen Kessel erhitzt und mit der Wolle verrührt.

Für Keçeci Mehmet steht im Fordergrund, die alten Techniken und Muster zu bewahren, denn auch in der Türkei geraten die alten Traditionen immer mehr in Vergessenheit. Einst waren die verwendeten Motive Ausdruck der anatolischen Kultur, mit ihnen verewigten Nomaden ihre naturelle Welt unter Verwendung von Web-, Stick- und Knüpftechniken, wurden Teppiche als Brautgeschenke ausgezeichnet oder erzählten die Stücke von Begebenheiten, vom Glauben, vom Leben und von der Geschichte der alten Turkvölker. Im Laufe der Zeit haben sich die Muster teils vermischt und regional gewandelt, sei es durch Heirat zwischen Menschen aus verschiedenen Regionen, Änderung der Lebensumstände, einfach durch Kreativität oder zuweilen durch Unwissenheit der Schaffenden.

Während ich in den 1980er Jahren viele noch sehr alte und originale Flachgewebe bei meinen Besuchen in Konya sehen konnte, war bereits in den 1990er Jahren kaum mehr etwas von diesen alten Schätzen in den Läden Konyas, auch nicht in den Basaren Istanbuls zu finden. Nach dem überwiegenden Ausverkauf dieses Kulturguts vorwiegend an Sammler, Händler und Touristen aus Westeuropa und den USA, tauchten auch vermehrt neue Stücke auf, die jedoch nur schwer als Originale bezeichnet werden können, da oftmals willkürlich mit Motiven, Farbwahl und Größen gespielt wurde.

Keçeci Mehmet orientiert sich bei seiner Arbeit an alten und antiken Stücken, studiert Farben, Muster, Abstände und Größen ganz genau. Er verwendet die traditionellen Formen aus den Kulturbereichen der Seldschuken, die im frühen Mittelalter die Region Mittelanatolien mit Konya als Hauptstadt beherrschten und in der Kunst und Architektur geometrische Formen bevorzugten, der Osmanen, vor allem aus den Regionen Uşak, Ladik, Karapınar, Konya sowie nomadische Motive (Yörük). Die Wolle und entsprechende Instruktionen werden schließlich an die ausgewählten Weberinnen und Knüpferinnen in den Dörfern weitergeben. Die Fertigstellung eines Stückes dauert dann oft noch mehrere Monate.