Es ist ein schöner Tag Ende September 2003. Viele Familien nutzen das Wetter, um den wohl heiligsten Ort Istanbuls aufzusuchen, Eyüp. Hier befindet sich das Grab eines Bannerträgers des Propheten Mohammed, Eyüp Ensari, der während der ersten Belagerung Konstantinopels durch die Araber in den Jahren 672-679 gefallen war.
Zur Erinnerung an die Wiederauffindung des Grabes ließ der osmanische Sultan und Eroberer Konstantinopels Mehmet II. im Jahre 1458 eine Moschee bauen, die jedoch später aufgrund von Erbebenschäden mehrfach umgebaut und sogar 1800 fast komplett neu errichtet werden musste. Das Heiligtum festigte die Verbindung zwischen dem Sultan, der ab Yavuz Sultan Selim (regierte 1512 bis 1520) gleichzeitig auch Kalif war, und dem Prophetengenossen und stellte einen Zusammenhang zwischen den Osmanen und der islamischen Frühgeschichte her. Später fand hier auch nach der Thronbesteigung der Sultane im Topkapı-Palast die Umgürtung des Schwertes Sultan Osmans durch einen islamischen Würdenträger statt.
Oberhalb des Komplexes befindet sich ein ausgedehnter Friedhof, der schon vom Ufer im Nordwesten des Goldenen Horns aus sichtbar ist. Von der Uferstraße führt der Weg durch kleine Gassen mit religiösen Souvenierläden, die Gebetsmützen, Gebetsketten, Parfüm, Korane, religiöse Bücher und teils auch amulettartige Gegenstände verkaufen. An dem herrlichen Springbrunnen stehen Beschneidungsknaben im glitzernden Prinzengewand mit ihren Familien und lassen sich vom Polaroid-Fotografen an diesem besonderen Tag vor dem Portal der Eyüp-Moschee ablichten.
Hunderte Tauben sind auf dem Platz, sie fliegen aufgescheucht hoch, als eine Gruppe Kinder in ihren Schuluniformen vorbeikommt. In der Nähe steht ein grüngestrichener, verzierter Leichenkarren für die Beerdigungen auf dem nahen Friedhof. Einige Menschen stärken sich in einer der nahe gelegenen Köfteci, kleine Lokale mit offener Küche, die diverse, leckere Hackfleischgerichte anbieten. Dazu trinkt man Wasser, das Joghurtgetränk Ayran oder eine Cola Turka, die türkische Cola, die viele Einheimische mittlerweile den amerikanischen Originalen vorziehen. Nach dem Essen folgt der obligatorische schwarze Tee bei stets herzlichem Umgang mit Kellnern und Köchen. Ein Angebot an alkoholischen Getränken gibt es an diesem religiösen Ort nicht.
Hinter einem großen Vorhof gegenüber der Moschee liegt die Grabstätte Eyüp Ensaris. Muslime aus allen Regionen der Türkei und aus aller Welt pilgern zum Grabmal des Bannerträgers. Eine unglaubliche Ruhe beherrscht den Innenhof zwischen dem Mausoleum und der Moschee.
An der mit besonders schönen Iznik-Kacheln verzierten Fassade beten Gläubige an einem Fenster, gleich dahinter befindet sich ein schmaler, kleiner Eingang, der ins Innere führt. In der Mitte hat man Einblick auf einen Holzsargophag, der mit einem silberbestickten Samttuch bedeckt ist. Davor stehen Männer und mit Tüchern verhüllte Frauen, beide Handflächen nach oben gerichtet, rezitieren die Al-Fatiha, die erste Sure aus dem Koran auf arabisch und sprechen anschließend verschiedene Bittgebete, so genannte Dua.
Am “Wunschfenster“ erbitten sich die Pilger Hilfe bei der Lösung von Problemen oder zur Überwindung von Krankheiten. Manche bringen ihre kranken und alten Familienmitglieder hierher, sie werden hereingetragen oder in Rollstühlen durch den schmalen Eingang geschoben. Wird der Wunsch erfüllt, so hat man die Pflicht einen Hammel zu opfern und das Fleisch unter den Armen zu verteilen. Zu diesem Zweck befindet sich auch eine Opferstelle in der Nähe des Mausoleums.
Auf dem Boden sitzt eine Gruppe Frauen und rezitiert den Koran. Ein alter Mann hockt in der Ecke und achtet pedantisch genau darauf, dass hier alles moralisch korrekt abläuft. Für die Pilger ist der Besuch ein wirklich herausragendes Erlebnis, im Raum herrscht eine starke spirituelle Atmosphäre.
Auch die gegenüberliegene Eyüp-Moschee, deren Fassaden aus weißem, schimmerndem Marmor bestehen, verbreitet eine intensive Stimmung. Das Licht der Mittagssonne, das durch die vielen Fenster über der Mihrab, der Nische, die die Gebetsrichtung nach Mekka anzeigt, auf die betenden Männer hereinfällt, erscheint durch den Boden leicht bläulich. Die prächtige Minbar, die Kanzel, von der der Imam Freitags seine Predigt hält, ist mit Gold verziert
Zu dem Komplex gehören weitere Moscheen und Grabstätten, wie die des Sokollu Mehmet Paşa, der am Hof Sultan Süleymans im 16. Jahrhundert vom Falkner zum Großwesir aufgestiegen war. Es schließt sich der fromme Stadtteil Eyüp an, der früher noch ein Dorf war und vor den Toren des alten Istanbul lag. Kleine Lebensmittelläden säumen den steilen Weg vorbei an Wohnblocks, weiter oben am Gipfel befinden sich einige feine Restaurants wie das “Pierre Loti” für die High-Society Istanbuls, die von ihren Terrassen einen weiten Blick über das Goldene Horn und Istanbul bieten. Dort angekommen, sehe ich, wie weit sich der davon unterhalb gelegene islamische Friedhof bis zum Eyüp-Komplex erstreckt.
Aufgrund des historischen Ortes haben viele Muslime, vor allem aber Leute aus der türkischen Oberschicht den Friedhof für sich und ihre Sippe als letzte Ruhestätte auserkoren. Viele Reiche stifteten im Ortsteil Brunnen und kleine Moscheen. Der zum Goldenen Horn hin steil abfallende Friedhof beherbergt auch alte Gräber mit historischen Grabsteinen. Die osmanischen Friedhöfe sollten wie Gärten für Entschlafene wirken, der verwendetete Grabsteinschmuck bezeugte den Rang, Beruf oder das Geschlecht der Verstorbenen. Und so steige ich den alten Friedhofsweg hinab ins Tal vorbei an den Gräbern von Paşas, Scharfrichtern, Sufi-Derwischen und Frauen, deren Grabsteine mit Blumenornamenten Auskunft über die Anzahl ihrer Kinder geben.