Der Flötenmacher


“Die Ney ist der menschlichen Seele sehr nahe”, sagt Ali Erol, der Flötenmacher, der auch selbst ein hervorragender Musiker (Neyzen) auf der Ney ist. Die sehnsuchtsvollen Klänge der Rohrflöte Ney spielen in der türkischen Sufimusik, vor allem in den Riten der Mevlevi-Derwische eine bedeutende Rolle.

Für die Sufis symbolisiert der Klang der Ney die spirituelle Sehnsucht und Suche nach Gott, ebenso wie das Schilfrohr aus dem Röhricht, seiner “Heimat” geschnitten wurde. Im Mesnevi Mevlana Cellalettin Rumis heißt es: “Höre die Rohrflöte, was sie verkündet, höre die Klage vom Sehnsuchtsschmerz entzündet, als man mich abschnitt aus dem Schilf am See, da weinte alle Welt bei meinem Wehsein …”. Es heisst Mevlana sei bei diesen Versen von der Sage um den König Midas inspiriert worden. Der historische König Midas war im 8. Jahrhundert vor Chr. König von Phrygien, das grosse Teile Anatoliens beherrschte. Der mythischen Sage nach hatte sich der gierige Midas von Dionysos gewünscht, dass alles, was er berühre, zu Gold werden solle, was ihm auch gewährt wurde. Da jedoch auch alle Speisen und Getränke zu Gold wurden drohte der König zu verhungern und zu verdursten. Um sich davon zu befreien musste er im Fluss Paktolos baden, der daraufhin der goldreichste Fluß in Kleinasien wurde.

Eine andere Sage erzählt davon, dass Midas den Apollon verärgert habe und dafür Eselsohren verpaßt bekam. Diese verbarg er jedoch unter einer typischen phrygischen Mütze. Das Geheimnis entdeckte sein Barbier, der es zwar keinem Menschen weitererzählte, jedoch in ein Loch am Flußufer rief: König Midas hat Eselsohren! Das Schilfrohr jedoch flüsterte es anderen Binsen zu, so dass es am Ende aller Welt bekannt wurde. So entstand der Begriff “Binsenweisheit”. Einer anderen Version dieser Geschichte nach, die in der Türkei verbreitet ist, soll eine Rohrflöte, die aus diesem Schilfrohr gefertigt worden war, es aller Welt erzählt haben.

Mitte Dezember 2005 besuche ich den bedeutenden Flötenmacher und Neyzen (Ney-Spieler) Ali Erol in seinem beschaulichen Atelier in der Kerkük-Caddesi im Stadtviertel Selçuklu in Konya. Gemeinsam sitzen wir mit einigen Mitgliedern seiner Familie und trinken Ada-Çayı, manche sagen auch Dağ-Çayı, ein Tee, der auf getrocknete Blüten einer Pflanze aus dem Taurusgebirge nahe der Mittelmeerküste aufgegossen wird und der nicht nur magenfeundlich, sondern gerade zu dieser nasskalten Jahreszeit das richtige heisse Getränk ist. Ali Erol sitzt ruhig und besonnen hinter seinem Arbeitstisch und erzählt ein wenig aus seinem Leben.

Ali Erol wurde 1962 in Konya geboren. In seiner Familie war zwar nicht musiziert worden, doch sein Vater, der hervorragend Koran lesen konnte und mit guter Stimme den Ezan, den Gebetsruf rufen konnte, war an Musik interessiert gewesen. Der Vater starb, als Ali 7 Jahre alt war. Als Schüler im Alter von 15-16 Jahren hatte Ali Erol dann ein einschneidendes Erlebnis, als sein Lehrer eines Tages eine Ney mit in den Musikunterricht brachte.

Ali Erol erzählt: “Als ich den Klang der Ney hörte, habe ich mich sofort in dieses Instrument verliebt und wollte es unbedingt erlernen.” Er konnte die Ney nicht mehr vergessen und da er kein richtiges Instrument hatte, musste er sich zunächst mit einem Rohr begnügen, bis er auf einer richtigen Ney blasen konnte. Bei einem Musikwettbewerb der Stadtverwaltung von Konya erkannte man, das Ali Talent hatte. Dort wurde auch der berühmte Neyzen Sadreddin Özçimi auf Ali Erol aufmerksam. Dieser schenke ihm eine Ney, so dass Ali überglücklich war. “Ich kann mein Gefühl nicht beschreiben, das ich in diesem Moment hatte”, erzählt Ali bewegt.

So begann er schließlich als Schüler von Sadreddin Özçimi das Spielen auf der Ney zu erlernen. Später spielte er in Musikgruppen, es folgten Konzerte in verschiedenen Städten der Türkei und auch im Ausland, zweimal absolvierte er sogar Solo-Auftritte. Fünf Jahre lang spielte er als Gastmusiker in der Tassawuf-Musikgruppe des türkischen Kulturministeriums. Seine Vorbilder sind nach wie vor sein Lehrer Sadreddin Özçimi und dessen Lehrer Niyazi Sayın, der als bester Neyzen in der Türkei gilt.

Ali Erol möchte so gut wie sein Lehrer Sadreddin Özçimi und dieser wollte wiederum so gut sein wie sein Lehrer Niyazi Sayın. Ali will damit zum Ausdruck bringen, dass man niemals genug lernen kann. Dann zitiert er den alten osmanischen Musiker Hammamizade Dede Efendi: “Musik ist wie der Ozean. Mit hochgekrempelten Hosenbeinen kann ich nur soweit in den Ozean gehen, bis meine Knöchel von Wasser umspült werden.”

Heute hat Ali Erol selbst etwa 15 Schüler, die bei ihm das Spielen der Ney erlernen. Dabei möchte er nicht nur die Spieltechnik, sondern vor allem ein Gefühl für dieses Instrument vermitteln, betont er. Vor einigen Jahren begann Ali sich für die Herstellung der Ney zu interessieren, machte zunächst einige Reparaturen und lernte so nach und nach selbst eine Ney anzufertigen. Heute kommen viele Kunden in sein Atelier und bestellen bei ihm eine Ney. Er mag es auf Bestellung zu arbeiten und nicht auf Vorrat, sagt er.

Nach einigen Runden Tee ist es nun Zeit für die Anfertigung einer neuen Ney. Ali Erol begibt sich über eine kleine Treppe in den oberen Raum des Ateliers, wo in der Ecke zahlreiche Bambusrohre stehen. Einige sind noch grün, andere sind bereits fertig getrocknet. Hier oben schneidet er die Schilfrohre (Türkisch: Kamış) auf die richtige Länge. Die Abstände zwischen den Ringen des Rohres müssen gleichmässig sein. Ist das Bambusrohr nicht gerade, erwärmt Ali das Rohr mit einem starken Fön, um es anschliessend zurecht zu biegen.

Das beste Bambus für die Ney kommt von der türkischen Mittelmeerküste, vorwiegend aus der Region Hatay, sagt er. Gewöhnlich kann er aus einer Bambusstange nur eine Ney anfertigen und zwar aus dem mittleren Teil. Die weitere Arbeit verrichtet er nun an seinem Arbeitstisch im Erdgeschoss. Als Ali das Bambusrohr beginnt innen mit einer langen Feile zu reinigen, erklärt er: “Mit der Reinigung wird das Bambusrohr zur Ney und erhält einen guten Klang” und dann zitiert er Mevlana Cellaleddin Rumi: “Wenn Menschen ihren Charakter reinigen, können sie gute Worte sprechen.”

Anschliessend bohrt Ali mit einem elektrischen Bohrer sieben kleine Löcher in das Bambusrohr, von denen eines leicht seitlich angebracht ist. Dann schneidet er mit einer Metallscheere einen nicht oxydierenden Blechstreifen zurecht, der an beiden Enden der Ney um das Rohr gelegt und festgelötet wird. Kleine unebene Stellen bearbeitet er mit einer Feile, auch die Öffnungen werden fein geschmirgelt. Jetzt kommt die Anfertigung des Mundstücks, welches der Flötenmacher aus dem Horn einer Kuh an seiner Drehbank anfertigt.

Als Material für das Mundstück verwendet er manchmal auch Fieberglas. Mit feinem Schmirgelpapier wird das entstandene Mundstück nachbearbeitet und erhält anschliessend seinen Glanz durch das Auftragen einer speziellen Paste. Mit dem Finger kontrolliert Ali Erol den inneren Durchmesser, bevor er das Mundstück auf die Ney aufsetzt. Jetzt muss das neugefertigte Instrument noch getestet werden. Um festzustellen, ob sich die richtigen Töne auf der Ney blasen lassen, verwendet Ali ein elektronisches Stimmgerät. Es gibt verschiedene Arten von Ney, insgesamt 12 verschiedene Stimmungen, zum Beispiel Kız (75 cm Länge) und Mansur (80 cm Länge) oder Bolahenk, Sipürde, Müstahzen, Yıldız, Şah und Davut. Dickere Bambusrohre haben mehr Volumen, längere Rohrflöten sind für den Basstonbereich.

Nach dem ausführlichen Test, der mir einen guten Eindruck von Ali Erols Spielkunst vermittelt, zeigt sich der Flötenmacher zufrieden mit seiner neu gefertigten Ney. Jetzt wird noch Sesam-Öl ins Innere der Ney aufgetragen und das Instrument für mindestens zwei Tage aufgehängt, bis es endgültig zum Bespielen bereit ist. “Sesam-Öl macht das Bambusrohr widerstandsfähig und erhöht zudem die Klangqualität”, sagt Ali Erol. Er weist ausserdem darauf hin, das starke Sonneneinstrahlung die Form der Ney verändern kann und fügt abschliessend hinzu: “Bespielt man eine Ney lange Zeit, verändert sich die beige Farbe des Bambus ins Rötliche, eine lange und oft bespielte Ney hat allerdings auch eine wesentlich bessere Klangqualität”.

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