Wild wuchernd wohnen in Istanbul


Die heutige Stadt Istanbul findet noch lange kein Ende an der alten Stadtmauer, schier endlos ziehen sich die Stadtteile und Außenbezirke hin. Istanbul scheint ständig zu wachsen, die Angaben zu Einwohnerzahlen schwanken zwischen 14 und 17 Millionen, manche glauben sogar, dass es etwa 20 Millionen Menschen seien, die die kosmopolitische Metropole bevölkern.

Täglich weitet sich die Stadt aus, an den Rändern kommen neue Zuwanderer vorwiegend aus den ländlichen Gebieten Anatoliens hinzu, sie werden zu neuen Städtern, fühlen sich jedoch oft ihren dörflichen Traditionen weiter verpflichtet. Die Stadtverwaltung hat 85000 der nach altem Recht “über Nacht errichteten” Gecekondos registriert, um sie nach und nach abzureißen. Allein im Stadtteil Gaziosmanpaşa sind es 700 Gecekondos, den Menschen sollen Sozialwohnungen angeboten werden. An den Rändern der Stadt schießen neue, in bunten Farben gestaltete Wohnblocks aus dem Boden. Im gesamtem Stadtgebiet werden seit mehreren Jahren wieder zahlreiche neue Moscheen, meist angelehnt an den osmanischen Stil, gebaut.

Doch vor allem das Entstehen moderner Bürotürme im Bankenviertel sowie die Metro verändern das Antlitz der Stadt. Die Stadtplanung für eine Metropole wie Istanbul zu organisieren ist sicher kein leichtes Unterfangen. Große Aufgaben warten auf die Verantwortlichen, der Ausbau der Metro inklusive eines Schienentunnels unter dem Bosporus, deren Fertigstellung bis zum Jahr 2010 vorgesehen ist. Die Planung einer dritten Bosporusbrücke, die Verlegung des Busbahnhofs und des Containerterminals in Harem werden diskutiert.

Eine große Herausforderung könnte auch eine eventuelle Umsiedlung von Menschen innerhalb der Stadt darstellen, die derzeit in stark erdbebengefährdeten Häusern wohnen. Nach den schweren Erdbeben in der Marmara-Region im Jahr 1999 wird der Bau neuer Häuser genauer kontrolliert und die Bausubstanz älterer Häuser geprüft. Die historischen Baudenkmäler der Stadt drohen auf der UNESCO-Liste des bedrohten Weltkulturerbes zu landen, sollten nicht zumindest wichtige Restaurationen in den nächsten Jahren durchgeführt werden.

Nur noch wenige Ecken in Istanbul erinnern an die alltägliche Umgebung früherer Zeiten in den einfachen Wohnvierteln. Überall haben Plastikschilder, wilde Anbauten aus Beton, Niedergerissenes und Neugebautes und allgegenwärtige kitschige Leuchtreklame eine neue, quirlige Lebendigkeit geschaffen, die sich mit einer ganz eigenen Dynamik ausbreitet. Keiner scheint sich daran zu stören, dass die Werbung für die Autowerkstatt an der neuen Moschee prangert. Neue Moscheen, Läden und Büros schaffen kleine Zentren im Viertel, vor allem in den Vorstadtbereichen entwickeln sich neue Lebensräume wie ein Mikrokosmos, teils eigenständig und nicht immer an den dafür vorgesehenen Straßenzügen. Freilich ist in den neuentstandenen Vierteln vor den Toren des alten Istanbul mit ihren breiteren Zugangsstraßen und angelegten Grundstücken etwas mehr Geometrie zu erkennen, als etwa im engen Gassengewirr der Altstadt.



Die meisten Wohnhäuser, teils mit kleinen Ladenlokalen im Erdgeschoss, sind einfach gebaut, besitzen zwei Stockwerke und da viele von ihnen nicht verputzt werden, wirken sie über Jahre wie im Bau. Da fällt es gar nicht auf, wenn bei Bedarf mal noch ein Stockwerk darüber gebaut wird, etwa wenn die Kinder beginnen eine eigene Familie zu gründen. Zu osmanischer Zeit wurden die Wohnhäuser Istanbuls meist sehr einfach aus Holz und Lehm gebaut, man plante ein Haus nur für etwa zehn Jahre, da in der Stadt immer wieder schreckliche Feuersbrünste wüteten.

Von der Wohnkultur der ehemaligen Nomaden scheint in den Jahrhunderten bis heute etwas bei den Städtern überlebt zu haben, vor allem das intime Leben im Innern eines Hauses erinnert wohl eher an das Leben in den Yurten. Handgewebte Flachgewebe (kilim) wärmten beim Sitzen auf dem Boden, Kissen und Teppiche bildeten die Möglichkeit, das sich die Familie trotz beengter Räumlichkeiten eine wohnliche Atmosphäre schaffen konnte und tagsüber jederzeit bereit war, Gäste zu empfangen. Um Kleidung und andere Gegenstände zu verstauen, verwendete man Truhen aus Holz. Damals wie heute durfte eine Wohnung nicht mit Schuhen betreten werden.

Ich erinnere mich an einen Besuch in der Wohnung eines Lehrers in den frühen 1990er Jahren, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern eine 3-Zimmer-Wohnung bewohnte. Wir aßen im Wohnzimmer auf dem Boden sitzend. Ein maschinengeknüpfter, bunter Teppich füllte fast die gesamte Fläche des Raumes. In einer Ecke stand eine Truhe, die zur Aufbewahrung von Handarbeiten für die Aussteuer diente. Auf einem großen silbernen Tablett in der Mitte des Raumes waren allerlei Speisen bereitgestellt, die in dieser Fülle nur zu Ehren des Gastes dargeboten wurden. An den Wänden hing, wie ich es in vielen türkischen Wohnung gesehen hatte, ein farbstichiges Poster mit der Sultanahmet-Moschee. Daneben ein kleiner Teller mit Koranversen. Über den in die Jahre gekommenen Fernsehapparat war ein selbstgehäkeltes, weißes Deckchen gelegt. In einer Ecke des Raumes stand ein einfacher Schrank mit Glasfenstern, dahinter Teegläser und ein paar Familienfotos. In der Ecke befand sich ein kleiner Ofen, der Einzige in der ganzen Wohnung. Nachts musste das Wohnzimmer zum Schlaflager hergerichtet werden. An diesem Abend aßen wir alle gemeinsam, Männer, Frauen und Kinder.

Nur selten habe ich es in der Türkei erlebt, dass Männer und Frauen getrennt essen, selbst bei religiös-konservativen Städtern oder in den Dörfern Anatoliens ist diese Trennung nur selten der Fall. Sind jedoch größere Gruppen Männer oder Frauen anwesend, ziehen sich die Frauen zum Essen in die Küche oder andere Räumlichkeiten zurück, auch um sich, wie die Männer, ungestört untereinander ausführlich auszutauschen.

Ausgiebige Unterhaltungen und Diskussionen, stundenlanges Zusammenhocken von Familien, Freunden und Nachbarn gehören zum Alltag in der Türkei. Das Mahl beginnt mit “Bismillah – Im Namen Gottes”, wie so viele alltägliche Handlungen, das anschließende Essen erfolgt dann oftmals schnell und hastig. Nicht selten essen alle von den selben Tellern mit Fleisch, tunken ein Stück helles Brot in einen Suppentopf, nehmen mit der sauberen rechten Hand aus einer Schale Reis. Nur in wenigen Haushalten habe ich es gesehen, dass man wie in Europa am Tisch sitzt und mit Messer und Gaben ißt, allenfalls dass man sich mit einer Gabel aus dem allgemeinen Angebot bedient.

Gastfreundschaft wird in allen Teilen der Türkei groß geschrieben, dabei servieren die Gastgeber ihren Gästen nicht selten Mahlzeiten, die eigentlich über ihre Verhältnisse gehen. Nach dem kräftigen, schmackhaften Essen der türkischen Küche folgt Entspannung mit einem türkischen Kaffee oder einem Glas schwarzen Tee. Jeder Abend als Gast einer türkischen Familie macht einem unweigerlich die Offenherzigkeit der Türken bewusst.

(Textbeitrag v. 2003)