In den ländlichen Gebieten Anatoliens gibt es immer noch einige Familien, die den meist kalten Winter in ihren Dörfern verbringen und im Frühjahr mit ihren Ziegen und Schafen in die Berge ziehen, um in den Sommerhäusern, den Yaylak zu wohnen.
Im September 2005 sind wir unterwegs in der Region von Çumra südöstlich der zentralanatolischen Stadt Konya. Auf staubiger Piste geht es kurvenreich den Berg hinauf, einem Teil der so genannten “Schwarzen Berge”, auf Türkisch: “Karadağı”. Der Boden rechts und links des Weges ist mit ockerfarbenen Distelgewächsen bedeckt. Die Gipfel der Berge dagegen wirken eher karg mit dicken Felsbrocken und grünen, vereinzelt rötlichen kleinen Bäumen auf schwarzer Erde. Von den hochgelegenen Plateaus hat man einen herrlichen Blick auf die Felder in der weiten Ebene.
Nach kurvenreicher Fahrt erreichen wir schließlich das alte Bergdorf Binbir Kilise (Tausendundeine Kirche), in dem einige Überreste von Kirchen aus byzantinischer Zeit stehen. Die alten Häuser des Dorfes sind aus Steinen errichtet und werden heute noch von Hirten bewohnt.
Neue Häuser dürfen hier nicht errichtet werden. Die byzantinischen Kirchen sind verfallen, die Häuser notdürftig repariert, Schaf- und Ziegenställe schließen sich direkt an die engen Wohnbereiche an. Als Toiletten dienen lehmgeformte Löcher hinter einer halbhohen Wand unter freiem Himmel.
Einige Familien leben hier in der Abgeschiedenheit, neben älteren Menschen auch junge Familien mit Kindern. Die nächste Schule befindet sich im Ort Kilbasan, ein Minibus holt die Kinder täglich ab und bringt sie zurück in die Berge. Aus Kilbasan muß auch das Trinkwasser gebracht werden, denn fließendes Wasser oder einen natürlichen Bach gibt es in Binbir Kilise nicht.
Neben den Häusern befinden sich kleine Gärten, in denen die Bewohner Obst und Gemüse zum Eigenbedarf anbauen. Der Boden ist karg und eignet sich nicht für ausgiebige Landwirtschaft. In einem der Häuser lebt ein alter Mann mit seiner Frau das ganze Jahr, auch im harten Winter. Der jüngere Teil der Familie, ein Mann mit seiner Frau und zwei Töchtern, 5 und 7 Jahre alt lebt nur im Sommer im Bergdorf.
Während der kalten Wintermonate wohnen sie in ihrem Haus im Tal im Dorf Süleyman Hacı. Die Frau, die gerade wieder schwanger ist, hockt auf dem Boden vor dem Haus und backt Maisbrot am offenen Feuer.
Später essen wir gemeinsam in einem winzigen Wohnraum im Haus. Zu dem lecker schmeckenden warmen Brot wird Joghurt, Ziegenbutter, Ziegenkäse aus eigener Herstellung gereicht. Ausserdem essen wir Honig von Imkern aus einem der nahe liegenden Dörfer. Dazu wird schwarzer Tee getrunken. Um anschliessend die klebrigen Finger zu waschen, schütten wir uns draussen Wasser aus einer kleinen Kanne über die Hände, das in der Sonne ganz warm geworden ist
Ich schlendere durch die staubigen Dorfgassen, treffe auf zwei alte Männer, die sich im Schatten angeregt unterhalten. Gleich daneben steht eine Eselsmutter und ihr Junges im Schatten einer Mauer. Die Sonne brennt vom Himmel herab, doch der kräftige Wind sorgt ein wenig für Abkühlung.
Die Steilhänge der Region sind für Tierzüchter von großer Bedeutung, die Tiere sind bei der Futtersuche in ständiger Bewegung, so bieten sich gute Voraussetzungen für einen gesunden Körperbau, starke Muskeln und feste Knochen. Dies erhöht die Milch- und Fleischqualität und steigert die Ausdauer und Langlebigkeit der wichtigen Zuchttiere.
Ich beobachte wie eine Ziegenherde aus dem Gatter neben einem der Steinhäuser im Dorf zur Nahrungssuche auf das Hochplateau getrieben wird. Der Hirte scheucht zunächst das Leittier heraus, sogleich folgen die anderen Ziegen in hohem Tempo, springen über Stock und Stein über die kleinen Pfade in die steinige Landschaft.
Der Hirte mit seinem langen gebogenen Stab begleitet die Ziegenherde. Jetzt erwacht auch knurrend der Hirtenhund, beobachtet aufmerksam den Weg der Herde, um dann in einigem Abstand den Tieren zu folgen.
Die Menschen, die in den so genannten Yayla, den Hochebenen Anatoliens leben, sind vom harten Leben ihrer Umgebung geprägt. Sie gelten als ruhige Zeitgenossen, doch man sagt über sie, so wie die Natur, vor allem das Wetter manchmal sehr wechselhaft sein kann, so können auch die Menschen in diesen Regionen sehr launisch und wechselhaft reagieren. Doch die Hirten der Hocheben gelten auch als charakterfest und willensstark. Ein altes Sprichwort lautet: “Wenn ein Hirte etwas wirklich will, kann er Milch aus Filz schöpfen”.
Das Yayla-Prinzip ist vergleichbar mit der Almwirtschaft und stammt noch aus Zeiten, in denen viele Hirten als Nomaden je nach Jahreszeit verschiedene Plätze aufsuchten. Es heisst, jeder türkische Stamm soll einmal einen Fluß und einen Berg besessen haben. Während die Flußgebiete als Winterdomizil dienten, waren die Berggebiete Aufenthaltsort im Sommer.
Diese Lebensweise bedeutet eine Anpassung von Tier und Mensch an die natürlichen Gegebenheiten. Die Hochebenen befinden sich in der Regel in etwa 1800 bis 3000 Meter Höhe. Der Auftrieb der Tiere beginnt im April oder Mai und dauert etwa zwei bis drei Wochen. Nach drei bis vier Sommermonaten Weidung der Tiere auf den Hochplateaus erfolgt die Rückwanderung der Herden ab Anfang September in die tiefer gelegenen Ebenen und die Überwinterung in den Dörfern.
Einige Nomadenstämme nutzten früher über das Jahr verteilt vier verschiedene Aufenthaltsorte: “Yazlak” im Frühling, “Yaylak” im Sommer, “Güzlek” im Herbst” und “Kışlak” im Winter. Andere Stämme wechselten nur zweimal im Jahr ihren Aufenthaltsort. Das Nomadentum kam mit den türkischen Stämmen aus den Steppen Mittelasiens nach Anatolien. In der seldschukischen Epoche im 13. Jahrhundert entwickelten sich neben dem städtischen Leben in Zentralantolien auch auf dem Land mehr und mehr feste Siedlungsformen mit Landwirtschaft und Viehzucht oder Halbnomadentum.
Im Osmanischen Reich, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert wurden durch die allgemeine politische und wirtschaftliche Stabilität noch mehr Nomaden (Yörük) oder Halbnomaden seßhaft. Durch die Landverluste nach militärischen Niederlagen der Osmanen im 19. Jahrhundert stieg vor allem die Zahl der Einwohner in den Dörfern.
Heutzutage gibt es immer weniger Halbnomaden und auch die Einwohnerzahlen in den Dörfern sind rückläufig. Vielen jungen Menschen erscheint das Leben auf dem Land zu hart und sie versuchen ihr Glück in den großen Städten. Halbnomaden und einige wenige Nomaden gibt es noch in Südostanatolien sowie im Taurusgebirge in Zentralanatolien bis in die Mittelmeer-Region. Sie unternehmen jedoch nicht mehr so weite Wanderungen wie in früheren Zeiten.