Der Kalligraf


Jeden Samstagnachmittag empfängt der Kalligraf Hüseyin Öksüz seine Schüler in seinem Atelier gleich hinter dem Rosengarten des Mausoleums von Mevlana Celaleddin Rumi in Konya und lehrt sie eine alte Kunst, für die einst die Kalligrafen der Osmanen berühmt waren.

Es ist der 10. Dezember 2005. An diesem Samstagnachmittag empfängt der Kalligraf Dr. Hüseyin Öksüz wie immer um diese Zeit seine Schüler in seinem Atelier. In diesem Bereich nahe dem Mevlana-Mausoleum im alten Zentrum Konyas haben ein Restaurant mit traditionellen Speisen, kleine Läden, die Teppiche und Handarbeiten verkaufen und verschiedene Künstler, wie Maler und ein Keramikatelier ihre Domizile.

Vor allem die Osmanen waren für ihr Kunsthandwerk berühmt und die Sultane förderten viele Arten von Kunst und Kunsthandwerk. Diese entwickelten sich überwiegend in den Residenzstädten des Osmanischen Reiches in Bursa, Edirne und Istanbul. In den Ateliers am Hof des Sultans waren zum Beispiel im 16. Jahrhundert zahlreiche Kunsthandwerker tätig, darunter Miniaturmaler, Kalligrafen und Buchbinder, Töpfer und Keramikkünstler, Kunstschreiner, Schnitzer, Sticker, Weber und Teppichknüpfer sowie Gold- und Silberschmiede.

Doch auch ausserhalb des Palastes entwickelte sich das Kunsthandwerk im Osmanischen Reich. Überall in den Werkstätten der Hauptstadt Istanbul entstanden künstlerische Arbeiten, auch einige andere kleine Städte wurden berühmt, wie Iznik oder Kütahya durch herausragende Fayencenkunst. Da die osmanische Gesellschaft dekorative Gegenstände sehr schätzte, fanden sich aufwendige und filigrane Arbeiten nicht nur bei Schmuckstücken oder im Hausinventar der Reichen, die Kunsthandwerker fertigten auch verzierte Waffen, Sattelzeug und Militärausrüstung.

“Kalligraphie ist eine angemessene künstlerische Darstellung der Offenbahrung Allahs im Koran.”

Aufgrund des islamischen Bilderverbots waren figürliche und realistische Darstellungen in der osmanischen Kunst eher selten. Allenfalls in der Miniaturmalerei wurden Menschen und Tiere, wenn auch meist bewusst unrealistisch abgebildet. Verspielte Ornamentik, islamische Kalligrafie und Darstellungen von Pflanzen wurden zum Mittelpunkt der osmanischen Kunst.

Die islamisch, osmanische Kalligrafie (Türkisch und Arabisch: Hat) entwickelte sich in Verbindung mit dem Islam. Begünstigt durch die arabische Schrift und einige persische Schriftzeichen entstanden unzählige neue Kreationen, mit denen oft Koranverse, Überlieferungen des Propheten Mohammed oder Aussprüche und Verse bedeutender Religionsgelehrter, Mystiker und Lyriker in besonders schöner Form geschrieben wurden.

Dabei wurde die Schrift in geometrische Formen verwandelt, so dass sich häufig eine Art Bild oder ein Symbol ergab. Die von links nach rechts geschriebene arabische Schrift kennt bei ihren Buchstaben zahlreiche Variationen und lässt sich zudem auch vertikal oder diagonal verschieben. Daraus entwickelten die Kalligrafen nach und nach verschiedene Schreibstile, bei denen man eine angemessene künstlerische Darstellung der Offenbahrung Allahs im Koran und der Worte des Propheten Mohammed schaffen wollte.

Nach der frühen kufischen Schrift wurden verschiedene Grundarten entwickelt, von denen die am häufigsten verwendete Schrift “sülüs” mit frei gestaltbaren, abgerundeten Buchstaben in 1 Millimeter Breite ist. Für die Abschriften des Koran wurde häufig der waagerechte, ebenfalls 1 Millimeter breite Stil “nesih” verwendet. Weitere Stile sind zum Beispiel “talik”, “murakka” und “reyhani”. Die eher rundlichen Stile “tevki” (1 Millimeter) und “rıka’” (2 Millimeter) dienten für offizielle Urkunden und andere Schriftstücke.

So genoss die Kunst der Kalligrafie bei den Osmanen höchstes Ansehen. Meisterkalligrafen studierten meist viele Jahre, um ein Diplom zu erhalten, das es ihnen erlaubte eine Signatur auf ihren Arbeiten anzubringen und an diversen Bildungseinrichtungen zu lehren. Da der Buchdruck sich im Osmanischen Reich erst spät durchsetzte, wurden vor allem Korane handschriftlich kopiert. Dabei entstanden auch prachtvoll gestaltete Exemplare.

Osmanische Kalligrafie findet sich jedoch vor allem auch in den großen Moscheen an den Wänden oder auf großen Tafeln, auf denen “Allah” und “Mohammed” sowie die Namen der nächsten vier Kalifen Abu Bakr, Omar, Osman und Ali stehen. Häufiges Motiv ist die “Basmala” (Bismillah rahman rahim, bedeutet: Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers), das man auch heute noch in vielen Häusern findet.

“Wie war dein Gemütszustand, als du dies geschrieben hast?”

Im Atelier des Kalligrafen Hüseyin Öksüz herrscht eine ruhige Atmosphäre. Aufmerksam und bedächtig hocken mehrere Männer um den Schreibtisch des Meisters, der die Hausaufgaben seiner Schüler prüft. Meister und Schüler treffen sich einmal pro Woche, das war so Tradition bei den Osmanen. Einer nach dem anderen legt seine Proben auf den Tisch des Kalligrafen, der in aller Ruhe Verbesserungen vornimmt, in dem er den schräg angespitzten Bambus in rote Tinte taucht und unter die schwarz geschriebenen Zeilen seiner Schüler die Korrektur schreibt.

“Der Bambus stammt aus Afrika”, erklärt Hüseyin Öksüz: “Die rote Tinte beziehen wir aus Pakistan, die schwarze Tinte wird in der Türkei hergestellt. Verwendet wird spezielles Papier. Zuvor wird mit einem Stein (mühre taşı) über das Papier gerieben, um es leicht glänzend zu machen. “Als der letzte seiner Schüler ihm seine Arbeit vorlegt, zeigt sich der Meister unzufrieden: “Das hast du nicht gut geschrieben. Wie war dein Gemütszustand, als du dies geschrieben hast? Wenn dein Gemütszustand gut ist, dann kannst du gut schreiben. Wenn dein Gemütszustand schlecht ist, dann kannst du nicht gut schreiben. Du kannst deine Gefühle nicht verbergen.”

Hüseyin Öksüz betont, das bei der Kalligrafie jedes kleine Detail besonders wichtig ist, es müsse alles sehr genau sein: “Ich hatte mal einen Schüler, der konnte nicht gut kalligrafisch schreiben. Ich dachte mir, es wäre besser für ihn, wenn er eine andere Kunstrichtung einschlägt, da er zu viel Zeit für das Erlernen der Kalligrafie aufwendete, jedoch kein Talent besaß. Da ich dies meinem Schüler nicht so direkt sagen wollte, rief ich seinen Vater an, um ihm die Situation zu erklären. Doch der Vater wollte dies nicht akzeptieren, er zeigte mir eine Schriftprobe des Sohnes und verglich sie mit meiner Schrift, konnte jedoch keinen Unterschied feststellen. Darauf wurde ich sehr ärgerlich und sagte zu seinem Vater: Dann weisst du mehr über Kalligrafie als ich.”

Dr. Hüseyin Öksüz ist Dozent an der Selcuk-Universität in Konya und gilt in der Türkei als berühmter Kalligraf (türkisch: Hattat). Das Atelier mit dem Namen “Lalezar”, in dem wunderschöne Kalligrafische Arbeiten, aber auch Gemälde und Ebru-Werke die Wände zieren, gehörte eigentlich seinem Bruder Sami Öksüz, der als erster ein solches Atelier in Konya eröffnete und für “Tezhip”, das Vergolden von Ornamentik und Ebru-Technik berühmt war.

Auch Arbeiten anderer Künstler werden hier interessierten Liebhabern angeboten. Sami Öksüz starb im Jahre 2003, als am zweiten Festtag des Opferfestes ein Wohnhaus in Konya einstürzte, bei dem etwa 100 Menschen ums Leben kamen. Hüseyin Öksüz berichtet über seinen Bruder, er habe vier Jahre “Tezhip” im Nakişhanesi, dem Atelier für Ornamentik im Topkapı-Museum in Istanbul, dem ehemaligen Sitz der osmanischen Sultane, gelernt.

Jetzt gibt Dr. Hüseyin Öksüz im Atelier seines Bruders private Kurse. Samstag-Vormittags kommen zunächst junge Frauen, zur Zeit hat er etwa 7-8 Schülerinnen, später am Nachmittag empfängt er seine 6-7 männlichen Schüler. Einer seiner Schüler erklärt mir, warum er Kalligrafie lernen möchte. Er mag die alte osmanische Zeit und Kultur, interessiert sich für Geschichte und Tradition und ist der Ansicht, das damals mehr Einigkeit unter den Menschen geherrscht habe. Sein Glaube gebe ihm das Interesse an der Kalligrafie, erklärt er.

Für das Erlernen der islamisch-osmanischen Kalligrafie hat er in Hüseyin Öksüz sicher einen Meister gefunden. Dieser studierte zunächst an der Eczaçılık-Fakultesi in Istanbul, um Apotheker zu werden. Während dieser Zeit traf er den berühmten türkischen Kalligrafen Hamid in Istanbul und die beiden wurden Freunde. Hüseyin Öksüz begann sich mehr und mehr für Kalligrafie zu interessieren und diese Kunst von Hamid zu erlernen. Zehn Jahre lang lernte er bei seinem Freund und Meister die Techniken “sülüs” und “nesih”, später begann er “talik” bei Uğur Derman, ebenfalls ein berühmter Kalligraf, zu erlernen.

Doch Uğur Derman sagte damals zu Hüseyin Öksüz: “Du kannst nicht gut genug “talik” schreiben, du solltest besser fortfahren “sülüs” und “nesih” zu schreiben. Doch Hüseyin Öksüz wollte nicht aufgeben und unbedingt auch den Schreibstil “talik” erlernen und so lernte er 25 bis 30 Jahre diesen Stil, bis sein Meister Uğur Derman ihm auch für “talik” ein iczetname, ein Diplom ausstellte, wie er es für die anderen Stile auch von Meister Hamid erhalten hatte. Doch schon bevor Uğur Derman bereit war dieses Diplom auszustellen, galt Hüseyin Öksüz bereits bei internationalen Wettbewerben als bester Kalligraf im talik-Stil. Im Laufe der Jahre machte er viele Entwürfe und Konzepte für die Kalligrafien in Moscheen in der Türkei, aber auch in Europa, darunter Moscheen in den Niederlanden oder in Deutschland wie in Gladbeck, Düsseldorf und Troisdorf.

“Ich habe keine Angst, dass Kalligrafie keine Zukunft hat, da wir Koranverse schreiben.”

Nachdem die Schüler ihre Arbeiten vorgelegt haben und neue Anregungen und Aufgaben für die kommende Woche erhalten haben, trinken wir gemeinsam schwarzen Tee. Ich frage Hüseyin Öksüz, warum er die Kunst der Kalligrafie ausübt. “Allah hat mir die Liebe zur Kalligrafie geschenkt”, sagt er und um dies zu erklären fügt er hinzu: “Wenn ich eine bestimmte Blume mag, kann ich nicht zu meinem Herzen sagen, es solle diese Blume nicht mögen. Wenn ich eine bestimmte Blume nicht mag, kann ich nicht zu meinem Herzen sagen, es solle diese Blume mögen.”

Dann sagt er noch: “Kalligrafie ist für mich wie meine Frau, ich möchte Kalligrafie schreiben, bis ich sterbe.” Zu Lernen und zu Lehren mache ihn glücklich, betont Hüseyin Öksüz, dies gebe ihm Kraft mit der Kalligrafie fortzufahren. Und auch hierzu hat er ein Beispiel parat: “Kenan Rifai sagte: ich bin in meinem Leben sehr glücklich, wenn ich lerne und wenn ich lehre.”

Bei der Kalligrafie denkt der Meister nicht ans Geldverdienen. “Künstler können nicht ans Geld denken”, sagt er und ist äusserst kritisch, was die Qualität der Kalligrafie anbelangt: “Wer wirklich gut ist macht weiter. Am Ende werden die Menschen herausfinden wer wirklich gut ist und wer ein Scharlatan ist.” Ich frage Hüseyin Öksüz nach der Zukunft der Kalligrafie. “Ich habe keine Angst, dass Kalligrafie keine Zukunft hat, da wir Koranverse schreiben”, sagt er: “Wir werden Schüler haben, viele oder wenige, diese werden fortfahren. Es wird immer so sein.”